Neue Wege braucht das Ziel.
Am Tag vor unserer Abreise nach Samos begann es zu schneien, heftig zu schneien. Den ganzen Winter fiel kaum eine Flocke. Nun verschwand die Stadt unter einer dicken weißen Decke. Bereits tags darauf hatte die Märzsonne die Pracht wieder zermatscht. Straßen und Autobahnen waren frei. Der Weg ist das Ziel.
Wir hatten die Fährroute Venedig-Igoumenitsa gebucht und alle Hotels und die Anschlussfähre von Piräus nach Karlovasi darauf abgestimmt. So der Plan.
An einem trüben Freitagnachmittag im Februar kam eine schnöde SMS von ANEK, unserer Fährgesellschaft: Das Schiff von Venedig nach Igoumenitsa sei für diesen Termin gecancelt und wir sollten uns mit unserem Reisebüro in Verbindung setzen. Hatten wir nicht. Wie immer haben wir direkt und online gebucht und natürlich im Voraus bezahlt. Es wurde der Nachmittag der nervigen Telefonate mit den langen Vorwahlnummern. Nach etlichen Irrungen und Wirrungen gelangten wir an eine geduldige und kompetente Mitarbeiterin von BLUESTAR FERRIES in Athen die für uns eine in unseren Zeitrahmen passende Verbindung via Ancona nach Igoumenitsa und eine adäquate Anschlussbuchung von Piräus nach Samos klar machte. Die gebuchten Unterkünfte mussten wir natürlich selbst stornieren.
Ursprünglich wollten wir freitags starten, um am Sonntagnachmittag die Fähre in Venedig zu bekommen. Der Starttermin verschob sich nun um zwei Tage auf den Sonntag. Die Fähre in Ancona war für Mittwoch 16:30 Uhr geplant und sollte am Donnerstagmorgen gegen 09:30 in Igoumenista anlanden. So könnten wir noch einen entspannten Tag in Diakopto am Golf von Korinth verleben. Mit der BLUESTAR Myconos wollten wir dann am darauffolgenden Freitagnachmittag von Piräus gen Samos schippern. Dachten wir.
Neue Wege braucht das Ziel. Wenn man uns nun schon Venedig gecancelt hatte, wollten wir etwas Neues in Italien kennenlernen. Wir studierten unsere Route durch Oberitalien nach Ancona und die Wahl fiel schnell auf Brisighella: „Ein Kleinod in den Bergen der Emilia-Romagna“. Die malerische Gemeinde liegt in der Provinz Ravenna - unweit von Bologna und der Autobahn E45 - auf unserer Strecke.
Wir waren gespannt. Noch weit vor Bologna erreichte uns am Montagnachmittag eine erneute SMS von ANEK. Die Abfahrtzeit der OLYMPIC CHAMPION von Ancona verschob sich vom Mittwoch 16:30 auf Donnerstagmorgen 00:30 Uhr. Grund war, wie wir später erfuhren, ein Generalstreik wegen des tragischen Eisenbahnunglücks im Februar, der an diesem Donnerstag alle Transportunternehmen betreffen sollte. Laut SMS sollte unsere Fähre Igoumenitsa erst am Donnerstagabend gegen 19:30 Uhr erreichen. Würde schwierig werden, mit dem entspannten Tag am Golf von Korinth.
Wir ließen uns die Vorfreude auf Brisighella nicht vermiesen. Als wir hinter Faenza durch eine mit Licht durchflutete Frühlingslandschaft gondelten, war unsere Stimmung schon deutlich gehoben. Links und rechts der kurvenreichen Strecke wechselten sich Weinberge mit Olivenhainen und blühenden, Mandel- und Kirschbäumen ab. Als sich auf den Höhen am Horizont einige Burgen und Türme abzeichneten, hatten wir das Kleinod in den Bergen schon fast erreicht. Klugerweise parkten wir außerhalb des historischen Ortskerns und schlenderten aufs Geratewohl in ein pittoreskes, buntes und leicht morbides Gassengewirr in ein mittelalterliches Städtchen - vielfältig, lebendig und mit südländischem Flair. So musste sich die Toskana vor vielen Jahren angefühlt haben.
Pünktlich zur Siesta waren wir in Brisighella eingetrudelt. Restaurants, Trattorien und Cafés rund um den „Eselsweg“ waren wegen akuter Augenpflege geschlossen. Etwas unterhalb des historischen Zentrums waren noch Stimmen und Musik zu hören. Im "Il gatto e la volpe" zischte und röhrte noch eine Espresso-Maschine. Katz und Fuchs waren noch putz munter. Vorsichtig lugten wir in das höhlenartige Lokal und fragten, ob es noch eine Chance auf eine kleine Erfrischung gäbe, vielleicht ein Cappuccino oder ein Gläschen Wein? "Ma sicuramente!" Eine fröhliche Gastronomin strahlte uns an. Auch die Sonne strahlte noch auf eine Ecke der kleinen Veranda. Dort ließen wir uns an einem Tisch nieder und harrten der Dinge. Ciara kam mit Gläschen und zwei Flaschen "vini locali" und ließ uns probieren. Wunderbar. Kurz darauf, schleppte sie allerlei Antipasti und zwei kleine Pizzastückchen an, die sie gerade für sich selbst in den Backofen geschoben hatte. "Buon appetito!" Wir waren angekommen. Noch nicht ganz in Griechenland, in Paleo Karlovasi - aber bei den "Brisighellesi", sehr netten und aufgeschlossenen Menschen, bei und mit denen wir auch noch den nächsten Tag verbringen durften.
Natürlich haben wir noch weitere Restaurants und etliche Cafés ausprobiert. Überall wurden wir warmherzig aufgenommen und nirgends wurden wir wirklich enttäuscht. Ein kleiner Höhepunkt war das Fisch-Menü in der "Trattoria la Casetta". Bereits nach der Antipasti-Platte waren wir überwältigt und ziemlich satt. Dann kamen noch Tagliatelle Mare, danach eine Auswahl an gegrillten Fischen und schließlich das Dessert - eine große Platte mit süßen Köstlichkeiten. Nein, das konnte man nicht verschmähen. Das Frühstück am Mittwochmorgen beschränkte sich auf Cappuccino mit trockenem Panini. Es wurde Zeit, diesen Ort der leckeren Sünden zu verlassen. Grazie Ciara. Addio Brisighella.
Und kaum fuhren wir wieder auf der A45 Richtung Ancona erreichte uns piepend eine neue SMS - diesmal von BLUESTAR FERRIES: Die Abfahrtzeiten und das Schiff von Piräus nach Samos hatten sich geändert. Die Fahrt am Freitag sollte nun anstatt um 15 erst um 17:30 Uhr mit der BLUESTAR CHIOS stattfinden. Okay, dann könnte man vielleicht in Diakopto bei Kostas noch gemütlich essen.
Um es vorweg zunehmen. Daraus wurde nichts. Es gab noch weitere SMS von BLUESTAR. Letztlich sollte die BLUESTAR MYCONOS am Freitag um 15 Uhr den Anker in Piräus lichten, um am Samstagmorgen zwischen 01:00 und 01:20 Uhr in Karlovasi anzulanden. Daraus wurde auch nichts.
Wir waren natürlich rechtzeitig in Piräus. Um 15 Uhr war das Schiff beladen und zum Ablegen bereit. Es tat sich aber nichts. Mittlerweile hatte sich zwischen Syros, Mykonos und Ikaria ein Sturm mit bis zu 8 Beaufort zusammengebraut. Da mussten wir durch. So gegen 16:20 Uhr setzte sich die Myconos in Bewegung. Zunächst verlief die Fahrt unspektakulär. Als wir den Kanal von Kithnos passierten wurde es schnell dunkel und zunehmend ungemütlich. Die Außendecks leerten sich schlagartig. Eine Gruppe betrunkener Mykonos-Reisender versuchte verzweifelt die Stellung zu halten, während die Fähre durch aufgewühlte schwarze See eierte. Drinnen boten Stewarts mit versteinerten Minen Kotztüten an. Durch die verspätete Abfahrt und widrigen Wetterbedingungen lag die Myconos weit hinter dem Fahrplan, der weiterhin trotzig auf den vielen Displays angezeigt wurde. Apathisch arrangierten sich die übernächtigten Passagiere mit ihrem Schicksal. Irgendwann würde jeder irgendwo ankommen.
Als vorletzte Station vor Karlovasi erreichten wir gegen 02:20 Uhr die Insel Fourni. Auch eine kleine Heimat von uns. Das Anlanden in diesem Hafen ist schwierig und braucht seine Zeit. Aber auch das war irgendwann geschafft und die Myconos machte sich endlich auf den Weg nach Karlovasi. Nix da! Eine übersteuerte Durchsage plärrte aus dem Schiffsinneren durch die stürmische Nacht. Aufgrund eines medizinischen Notfalls musste der Kahn umdrehen - zurück nach Fourni. Als auch das letztlich bewältigt war, ging es endlich nach Hause. Kurz vor 4 Uhr kamen wir verfroren und übernächtigt in Karlovasi Limani an. Als wir den Wagen oben auf dem Parkplatz in Paleo parkten, war im Osten schon ein schwacher Lichtschimmer zu erahnen. Ende gut - alles gut. Dachten wir. Aber darüber in Kürze mehr.
Vor unserer nächsten großen Reise werden wir auf jeden Fall eine Kerze in dem Kirchlein unmittelbar neben unserem Haus in Paleo entzünden. Sie ist Agios Nikolaos geweiht, dem Beschützer aller Seeleute und Reisende. Kann ja nicht schaden, wenn man schon so einen prominenten Heiligen in der unmittelbaren Nachbarschaft hat. Schließlich ist immer ein Weg das Ziel.