Über einen Frühling, der etwas später kam.

Ein Freund sagte, der Winter auf Samos sei die gemütlichste Jahreszeit. Man habe endlich Zeit. Zeit für ausgedehnte Treffen mit Freunden bei gutem Essen und langen Gesprächen. Zeit zum Souma brennen und trinken. Und Zeit für Musik und Gesang. Seine haarigen Unterarme kreisten gedankenversunken zu einer imaginären Winter-Wohlfühl-Melodie.

Das mit der Zeit stimmt. Irgendwie. Es passiert nicht so viel. Und wenn sich etwas bewegt, dann sehr gemächlich. Dann gibt es Tage, da passiert über lange Stunden gar nichts. Der Strom wurde mal wieder abgeschaltet. Aber dazu später mehr.

kalter hafen

Als wir Mitte März nach einer stürmischen Überfahrt endlich auf Samos eintrudelten, war in Paleo Karlovasi noch Winter. Die wenigen Nachbarn, die sich auf die Gassen wagten, versteckten sich unter Mützen, vermummt in dicken Pullovern oder Wintermänteln. Die Natur war noch weit zurück, eher grau als grün. Von lauen Frühlingslüften war noch kein Hauch zu spüren.

Gleich am ersten Abend hatten wir uns mit Freunden im Akamatra verabredet. Dort sorgte ein bullernder Holzofen für wohlige und gemütliche Wärme. In unserem Häuschen war es kalt und feucht. Alle Textilien fühlten sich unangenehm klamm an und für unsere aus Deutschland eingeschleppte Heizdecke hatten wir das Netzteil vergessen. So gingen wir im mediterranen Vorfrühling mit Wollsocken und im kuscheligen Lagen-Look ins Bett.

schimmel

Paleo schmiegt sich an einen bewaldeten Bergkamm über Karlovasi und ist berühmt-berüchtigt für eine ausgeprägte Luftfeuchtigkeit. Erquickend im Sommer, unangenehm im Winter. In der kalten Jahreszeit zieht diese „υγρασία“ gerne in ungeheizte und gut abgedichtet Häuser und lässt an Wänden und Gegenständen den Schimmel blühen. So auch bei uns. Eine Wand im Badezimmer musste neu verputzt und einige Fußbodenbretter ausgetauscht werden, nachdem ich an einigen Stellen krachend eingebrochen war. Nein, ich bin nicht schlagartig schwerer geworden. Die 100 Jahre alten Dielen hatten auch Wasser gezogen und waren morsch geworden. Auch viele Gegenstände aus Naturmaterialien wie Schuhe oder Taschen hatten sich Schimmelkulturen angelacht. Aus einem Weidenkorb, den meine Frau als Hängeleuchte Zweck entfremdet hatte, wuchsen dünne und schleimige Fäden, als hätte ein Alien es sich darin gemütlich gemacht. Dagegen hilft Essigwasser. Für die betroffenen Wände und Mauern gibt es auch ein bewährtes Gegenmittel - einen elektrischen Luftentfeuchter. Fast jeder im Dorf hat so ein Gerät. Es ist schon erstaunlich, welche Menge an Wasser so ein Ding aus den Wänden zieht. Unser Rekord liegt bei 15 Litern innerhalb eines Tages. 

morsche bretter

schimmel im schuh

Wir waren auf Kälte und Regen eingestellt. Und es war kalt. Sehr kalt und vor allem sehr trocken. Im November 2022 hatte es das letzte Mal ergiebiger geregnet. Seither waren bis auf ein paar Schneeflocken wenig Nasses vom Himmel gefallen. Der Kerkis hatte zwar für ein paar Tage eine weiße Mütze, aber die Zisternen blieben leer, Bäche ausgetrocknet und Quellen versiegt. Die anhaltende Trockenheit war das bedrückende Thema in den Kafenien und Tavernen. Die Auswirkungen des Klimawandels sind auch in unserem Dorf am Ende von Europa angekommen. 

georgios

Auch das Angebot von Georgios, unserm Rentnerbäuerlein, das uns einmal die Woche auf dem Moped mit Produkten aus seinen Gärten beliefert, war bescheiden. Frische Eier hatte er immer dabei - sicher in einem Tütchen für uns verpackt, das er uns aber nie direkt übergab. Einmal wollte ich ihm das Tütchen abnehmen, aber er zirkelte es um mich herum und legte es vorsichtig hinter mir ab. Er registrierte mein ungläubiges Erstaunen, zog die Augenbrauen hoch und wiegte seinen behelmten Kopf. Er habe die Eier seinen Hühnern gestohlen, erläuterte er sanft. Und wenn er sie mir direkt übergäbe, würde auch ich mich dieses Diebstahls schuldig machen. Etwas verlegen kramte er in der roten Plastikkiste, die er auf sein Moped geschnallt hatte. Heute hatte er nur einen Bund struppigen Wildspinats und eine große Tüte mit „Kουκκιά“, grüne Saubohnen für uns mitgebracht. 

ziegen

Auch Georgios war frustriert und verzweifelt über die anhaltende Trockenheit. Normalerweise wäre jetzt die erste Erntezeit. Aber dieses Frühjahr? Er müsse seine Gärten mit teurem Wasser aus der Leitung gießen und die Hühner fänden auch nicht viel zum Picken. Wenn dann im Mai die Hotels und Ferienanlagen ihre Pools befüllten, würde auch das Leitungswasser rationiert. Und dann? 

regen

hafen bei regen

Glücklicherweise zogen im Laufe des Aprils bis Anfang Mai einige ausgedehnte Tiefdruckgebiete über die Ostägäis und es regnete über Tage in Schnüren. Wir hatten punktgenau kurz davor unsere Obstbäume mit BIOSOL gedüngt und genossen nun das lang anhaltende Geplätscher. Es war wunderbar. Dieser Regen-Segen hat die Lage der Bauern sichtlich entspannt. Auch unser Georgios schaut nun etwas zuversichtlicher in die Zukunft. Ob es reicht, wird der Sommer zeigen. 

regenschauer

wolken hafen

In der Karwoche begann das Dorf aus der Winterstarre zu erwachen. Der Parkplatz füllte sich. Rollläden wurden hochgezogen, Fenster geöffnet und Klamotten zum Entlüften ins Freie gehängt. Viele Athener zieht es über die Osterfeiertage zurück ins Heimatdorf, einige auch nach Paleo. Es ist ein angeregtes Kommen und Gehen. Lange hatte man sich nicht gesehen und es gab bestimmt viel zu erzählen. 

Es war auch in der Karwoche, als zum ersten Mal der Strom ausfiel - abgestellt, wie sich später herausstellen sollte. Dienstagmorgen kurz nach 8 Uhr. Die Kaffeemaschine erstarb röchelnd. Ich hatte sie gerade eingeschaltet. Das Radio verstummte, der WLAN-Router war weg und auch der Kühlschrank versank in beeindruckende Lautlosigkeit. So ein Stromausfall kommt schon mal vor, dachten wir uns. Wird schon bald wiederkommen. Kam aber nicht. Wir hörten uns in der Nachbarschaft um. Nirgends Strom. Maria zur Rechten hatte Bettwäsche in der Maschine und die zur Linken Ostergebäck im Ofen. Dann fiel es uns ein. Für 11 Uhr hatten wir einen Handwerker bestellt. Wir erreichten den Tischler über sein Mobilphone. Er lachte. Kein Problem, seine Bohrer und Sägen bräuchten kein Strom - nur volle Akkus und die hätte er. Nur den obligatorischen Kaffee konnten wir ihm nicht bieten. Dafür gab es nach vollendeter Arbeit ein kellerkühles Bier im Kafenion. Irgendwann am Nachmittag röchelte die Kaffeemaschine. Der Strom war wieder da.

Ich hatte den Strom freien Tag schon fast vergessen, als eines Morgens nach den Osterfeiertagen er wieder weg war. Der Kaffee war schon durchgelaufen und Handwerker waren auch nicht im Anmarsch. Trotzdem ärgerlich. Und es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein. Schließlich kam ich zufällig hinter die mysteriösen Stromausfälle. An einer Fensterscheibe des Kafenion entdeckte ich einen unscheinbaren Zettel, der über geplante Stromabschaltungen wegen Baumaßnahmen im Hafenviertel informierte. Die Stammbesatzung des Kafenions war wie immer bestens informiert. Unten an der Hafenstraße würde gerade ein neues Hotel hochgezogen. Deshalb erneuere man auch die maroden Stromtrassen, an denen auch die Stadtteile Limani, Potami und Paleo hingen. Also auch wir.

Zwei griechische Kaffee später wurde ich von Dimitris, unserem Kafenionwirt aufgefordert, auch unsere Erlebnisse mit den Stromausfällen zum Besten zu geben. Bei ihm habe schließlich eine Gefriertruhe den Geist aufgegeben und bei Makis wäre der alte Sicherungskasten abgeraucht. Ich ließ mich nicht lumpen und erzählte, dass ich einen Ausfall nicht mitbekommen habe und dabei entsetzt feststellte, dass anscheinend mein neuer großer Computermonitor kaputt sei. Wie das, wollten sie wissen. Der Monitor hänge an meinem Laptop und den fahre ich jeden Morgen hoch und schalte dann den 27-Zoll-Monitor dazu, der dann normalerweise das Laptop-Bild in groß spiegelt. Normalerweise. An diesem Morgen blieb er schwarz. Klar, er hatte keinen Strom. Das ist mir aber nicht aufgefallen, da der kleine Laptop anstandslos arbeitete. Wie mir erst später klar wurde, zog er den Strom aus seinem Akku. Schon leicht panisch hatte ich mittlerweile alle Knöpfe vom Monitor überprüft, alle Kabel entfernt und in neuer Anordnung wieder eingestöpselt. Natürlich ohne Erfolg. Ich suchte gerade in dem Verpackungskarton des Monitors nach einer Bedienungsanleitung, als meine Frau von oben rief: "Kein Strom, kein Kaffee." Χωρίς ρεύμα, χωρίς καφέ. Das gefiel meinen neuen Freunden. Geteiltes Leid hat schließlich einen hohen Unterhaltungswert und schweißt zusammen.

blumen

Die Sau- oder Ackerbohne kennt man meist in getrocknetem Zustand. Der Geschmack des zubereiteten Bohnengerichts kann schon mal etwas mehlig bis muffig ausfallen, was meist mit kräftig würzenden Zutaten wie Knoblauch oder Chili überdeckt wird. Sie gilt deshalb als etwas ordinäre Hülsenfrucht - sehr zu Unrecht.

saubohnen

In besonders wintermilden oder maritimen Anbaugebieten wird die Kουκκιά als Winterfrucht bereits im vorausgehenden Herbst ausgesät und im Frühjahr geerntet. Die lindgrüne Bohne kommt als zarte und nahrhafte Frühlings-Delikatesse gerne auf den vorösterlichen Fasten-Speiseplan.

bohnen

Georgios, unser Rentner-Bauer, hatte uns bei seiner wöchentlichen Speziallieferung einen kleinen Sack mit den grünen Schoten mitgebracht. Ob wir denn eine Woche Saubohnen essen sollten, fragten wir scherzhaft. Das reiche gerade mal für eine Mahlzeit, meinte er überrascht. Er sah unsere Skepsis, nahm eine der großen Schoten aus dem Sack und brach sie geschickt auf. Nur zwei bis drei weißgrünliche Bohnen kullerten in seine Handfläche. Die Schote warf er weg und winkte uns näher heran. Eine der Bohnen klemmte er sich zwischen Daumen und Zeigefinger und pulte mühsam mit den Fingern der anderen Hand einen dicklichen, halbtransparenten Mantel von der Bohne - den er ebenfalls achtlos wegwarf. Die kann man essen, sprachs und schob sich die grüne Bohne in den Mund. Tatsächlich schmecken sie schon im rohen Zustand köstlich. Aber noch besser wären sie gedünstet mit Zwiebeln und rotem Paprika. Etwas Salz, Pfeffer und gehackter Petersilie. Georgios verdrehte die Augen und schmiss sein Moped an. Halb im Wegfahren stoppte er noch mal. Ganz wichtig. Wenn die Bohnen aus den Schoten gepult sind, in kochendes Wasser schütten und nach drei Minuten wieder mit kaltem Wasser abschrecken. Danach würden die Bohnen wie fast von alleine aus der wachsartigen Hülle heraus flutschen. Stimmt. Das hat prima funktioniert. 

natur

Die Tiefausläufer sind über die Türkei abgezogen. Sie haben die Natur erfrischt und die Zisternen halbwegs befüllt. Ich war auch schon einmal im Meer. Nur kurz und kurz vor einem Gewitter. Die Natur explodiert in Zeitlupe. Man kann ihr staunend beim Sprießen und Blühen zusehen. Heute durchpflügten Schwalben und ein Schwarm bunter Bienenfresser lärmend den milchigen Himmel. Das Leben ist angenehm, die funktionslose Heizdecke verstaut und wir genießen endlich den Frühling, der etwas später kam.

Fotos: Walter Schoendorf - Samos 2022/2023