Gott sieht alles. Eleni weiß alles.
Das griechische Wort für Nachbarschaft „η γειτονιά“ ist eng mit „γειτνιάζει“, dem Adjektiv „angrenzend“ verwandt. Angrenzend ist hier in unserem Dorf schon eine wohlmeinende Untertreibung - zumindest was die Baukörper betrifft. Für einen Außenstehenden ist es schwierig, das organisch gewachsenes Chaos zu durchschauen. Wo fängt das eine Objekt an, wo hört das andere auf. Oben ist unten und vieles baufällig oder verlassen.
Ähnlich undurchdringlich erschien und erscheint uns bis heute auch das Beziehungs- und Verwandtschaftsgestrüpp der Dorfbewohner. Dank unserer Maklerin hatten wir zumindest eine ungefähre Vorstellung, wer bzw. welche Familie das Objekt verkaufen wollte. Die unmittelbare Nachbarschaft war ihm ebenfalls unbekannt. Das war uns allerdings nicht unwichtig. Was nutzt das schönste Häuschen, wenn gegenüber oder nebenan ein Stinkstiefel oder ein Drache haust?
Als wir bei der zweiten Besichtigung in der schmalen rückwärtigen Gasse standen und die Bausubstanz begutachteten, bog plötzlich ein alter Bekannter um die Ecke. Wir begrüßten uns herzlich und er wollte natürlich wissen, was wir hier wollten. Wir wiesen auf das Bruchsteinhaus und bevor wir noch irgendetwas sagen konnten, tobte Janis los und brüllte „Maria, Maria!“. Kurz darauf kam er mit einer älteren Dame im Schlepptau die Balkontreppe des Nachbarhauses herunter und stellte uns als gute Freunde vor. Die etwas überrumpelte, aber sympathische Dame war und ist seine Schwiegermutter und heute unsere Maria zur Rechten. Die Kaufentscheidung war gefallen.
Es gibt folgerichtig auch eine Maria zur Linken. Sie wohnt mit Mann, zwei Bengels, Schwiegereltern und und drei weiteren jüngeren Frauen, die wir in das verwandtschaftliche Gefüge bislang noch nicht einsortieren konnten, links von uns. Die Familie bewirtschaftet unten im Tal einen kleinen Bauernhof, den sie über unsere gemeinsame Gasse erreicht.
Wir werden natürlich ständig von anderen freundlichen Menschen aus dem Dorf angesprochen, mit denen wir uns ebenso freundlich unterhalten, aber keine Ahnung haben, wer sie sind und wo sie hingehören. Wir sind schließlich gut, als die Neuen auszumachen. Und denen schenkt man gerne schon einmal eine Plastiktüte mit frisch geernteten Kirschen oder Aprikosen aus den umliegenden Gärten.
Im Laufe der Zeit löst sich dann das Muster der Alteingesessenen und der Neuen auf. Nachbarn sind nicht gleich Nachbarn. Es gibt Zugezogene aus anderen Dörfern - wie Maria zur Linken, die aus dem Bergdorf Kosmadei stammt. Die Vorfahren von Maria zur Rechten waren Ponti-Griechen und sind im letzten Jahrhundert von der Schwarzmeerküste eingewandert. Maria ist stolz auf ihre Wurzeln und lässt regelmäßig pontische Spezialitäten von ihrem Balkon zu unserem wandern. Da gibt es auch noch die vielen Dörfler, die nach Australien, Amerika, Kanada oder sonst wo hin ausgewandert waren und zurückgekommen sind. Sie haben nicht nur andere Sprachen, sondern auch andere Gepflogenheiten mitgebracht. Es gibt auch ein Paar aus Österreich, das hier schon seit 40 Jahren lebt und tief mit der orthodoxen Kirchengemeinde verbandelt ist.
Und es gibt Eleni. Wir waren gerade eingezogen, presste sie schon ihr hageres Vogelgesicht mit dem grauen Kurzhaarschnitt an die Fensterscheibe. Sie wohnt in unserer Gasse, füttert eine Horde Katzen durch und ist sehr kommunikativ. Eleni weiß immer Rat, auch wenn man keinen braucht. Im Supermarkt taucht sie hinter einem an der Kasse auf. Selbstverständlich nimmt man sie samt ihren Tütchen und Getüddel mit nach oben - auch wenn man da eigentlich nicht hinwollte. Während der Fahrt macht man die Fenster auf und die Ohren zu. Eleni weiß alles und das erzählt sie auch.