Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.
Das Leben in unserem Dorf hat einen vertrauten Rhythmus. Adonis knattert täglich um die Mittagszeit hupend durch die Gassen und verteilt frisches Brot aus den am Lenker angehängten Plastiktüten. Montags, mittwochs und am Sonnabend kommt der dicke Gemüsehändler, der mittlerweile auch Hoflieferant unserer neuen Nachbarschaftstaverne Akamatra ist.
Und immer bimmelt es an irgendeiner Kirche oder Kapelle. Unser Dorf hat immerhin 13 Gotteshäuser und der orthodoxe Kirchenkalender weist ganzjährig zahlreiche Fest- und Heiligentage auf. Unsere Nachbarin Maria zur Rechten kennt sie alle. Sie flitzt in angemessener Garderobe zu jeder Morgen- oder Abendstunde zur angebimmelten Feier.
Es gibt aber auch Befremdliches. Ereignisse oder Geschichten, die sich uns nicht so einfach erschließen, die anscheinend außerhalb unserer sozialen und kulturellen Werte und Vorstellung liegen.
Neulich spielten zwei Kinder auf der Platia mit einem Schattenpuppentheater Karagiozis-Szenen nach. Die vielen Figuren in diesen Stücken werden alle im Seitenprofil mit beweglichen Armen dargestellt, die von den beiden Kids mit langen Stiften, die aus dem Rücken der Puppen herausragen, geschickt gedreht und bewegt werden.
Obwohl die Karagiozis-Geschichten variieren können, gibt es eine grundlegende Formel, der alle diese Geschichten folgen:
Karagiozis ist arm, hat einen Buckel, trägt zerlumpte Kleidung und ist barfuß. Er lebt mit seiner Familie in einer kleinen Hütte in der unmittelbaren Nachbarschaft zum mächtigen Sultanspalast. In den meisten Geschichten wird er als rauflustiger und gerissener Betrüger dargestellt, der immer wieder versucht, durch faule Tricks an Geld zu kommen.
Der Karagiozis-Stoff ist deutlich komplexer und vielschichtiger als zum Beispiel unser Kasperle-Theater. Um so erstaunlicher war es, wie sicher und ernsthaft das Mädchen und der Junge damit umgingen. Laut, gestenreich und in unterschiedlich und verstellten Stimmlagen spielten sie die verschiedenen Charaktere. Vorbei kommende Erwachsene griffen mit ebenfalls verstellten Stimmen in das dramatische Geschehen ein und versuchten das Spiel zu beeinflussen. Dimitris, der Großvater des Mädchens, gab mit seiner dunklen, kratzigen Raucherstimme einen überzeugenden Gastauftritt als grimmiger Leibwächter des mächtigen Sultans. Er war es auch, der uns mit gesenkter Stimme den groben Handlungsstrang erläuterte, damit auch wir eine ungefähre Vorstellung vom Spielverlauf entwickeln konnten: „Schau, jetzt versucht Karagiozis wieder den Sultan zu bescheißen. In dem Sack ist kein Gold, sondern Steine. Aber nicht mit mir!“ „Στη φυλακή μαζί σου!“(Ins Gefängnis mit dir!) brüllt er mit seinem kratzigen Leibwächter-Bass und der arme Karagiozis wackelt aufgeregt von der kleinen Bühne. Endlich hatten auch wir etwas verstanden und klatschten begeistert, ernteten aber nur schiefe Blicke von den Kids und den umstehenden Zuschauern. Das Stück sei noch lange nicht vorbei, raunte uns Dimitris zu und die Kinder kicherten leise in unsere Richtung.
Wenn wir kleinere Näharbeiten zu vergeben haben, besuchen wir Soula. Die muntere Mittvierzigerin lebt mir ihrem Vater in unserer Nachbarschaft. Sie kürzt uns Vorhänge oder unterfüttert eine abgewetzte Shorts an fadenscheinigen Stellen. Letzten Donnerstagnachmittag war es mal wieder so weit. Mit diversen Textilien in einer dezenten Plastiktüte machten wir uns auf den Weg zu Soula. Wir trafen sie rauchend auf der Terrasse vor ihrem Haus. Sie lachte und winkte uns herbei. Als wir näher kamen, bemerkten wir ihre verheulten Augen und ihre etwas derangierte Frisur. Wir fragten, ob wir ungelegen kämen - das mit den Klamotten sei nicht eilig. Sie winkte ab, übernahm den Plastikbeutel und schob uns durch die Tür hinein. Gerade als wir uns setzten, wies sie mit ihrer linken Hand über ihre Schulter. „Dahinten liegt er.“ Im Halbdunkel konnte man im Nachbarzimmer jemanden in Bett liegen sehen. Wir fragten, ob ihr Vater krank sei und ob wir nicht störten. Nein, nein - er läge im Sterben. Die Ärzte geben ihm noch zwei oder drei Tage. „Mein armer Papa“. Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen und sie begann heftig zu schluchzen. Im Nachbarzimmer hörte man ein leises, wimmerndes Röcheln. Wir standen abrupt auf und hatten einen heftigen Fluchtimpuls. Die Nähe zum Sterben erschien uns ungehörig und war uns fremd. Sehr fremd. „Setzt euch bitte. Wie trinkt ihr den Kaffee? Mit viel oder wenig Zucker? Mein armer Papa hat ihn immer nur schwarz getrunken.“ Wie immer bereitete sie den Kaffee auf dem kleinen Gaskocher und erzählte nebenbei die Krankheitsgeschichte ihres Vaters und die düstere Prognose der Ärzte. Ab und an schaute sie rüber zum Nachbarzimmer. „Ich glaube, morgen wird er …“ - sie zeigt mit dem Daumen zur Zimmerdecke und wischt resolut Tränen aus ihren Augen. Sie sollte recht behalten. Ihr Vater verstarb tatsächlich am Freitagmorgen und wurde noch am Samstag beerdigt. Er wurde nur 80 Jahre alt. Arme Soula.
Nach langen Monaten tiefblauen Himmels zogen diese Woche endlich Regenwolken über den Kerkis. Als wir auf den Parkplatz des großen Supermarktes in Limani Karlovasi einbogen, fielen zögerlich einige Tropfen, was sofort unsere Scheibenwischer aktivierte, die wohl den Sommer über auf Automatikmodus standen. Ein lautes und deutliches „Moin!“ begrüßte uns von draußen. Beim Aussteigen erblickten wir auf der einzigen Bank in dem trostlosen Areal eine Frau und einen Mann mittleren Alters, die uns freundlich und aufmunternd zu nickten. „Wir haben bislang nur Autos mit griechischen Nummern gesehen. Da muss man doch ein Kennzeichen aus Norddeutschland wohl standesgemäß begrüßen.“ Nach dieser Charmeoffensive kamen wir schnell ins Gespräch. Das Pärchen kam aus Schleswig-Holstein und hatten für eine Woche Pauschalurlaub in Karlovasi gebucht. Ferien auf dem Supermarktparkplatz? Fast zeitgleich hoben beide ihre Schultern. Sie wollten sich erst mal einen Überblick von der Gegend hier verschaffen. „Ist ja nix Dolles. Im Internet sah alles super aus und es war ein echter Schnapper!“. Die Dame mit dem kecken norddeutschen Zungenschlag hatte dabei ihre Mundwinkel deutlich nach unten gezogen. Seit gestern säßen sie nun dahinten in dem Hotel - beide wiesen synchron nach links - und wüssten eigentlich nicht, was sie hier sollten. Das Personal wäre nett, spräche aber nur Griechisch und Englisch. „Falsche Stelle, falsche Welle.“, betonte er trocken und zeigte frustriert zu dem tröpfelnden Himmel.
Mit einem einfachen Small Talk war diesen beiden Landsleuten nicht zu helfen. Wir setzten uns zu ihnen auf die einsame Parkplatzbank und versuchten ihre Fremdheit durch viele Tipps und handfeste Informationen etwas aufzulösen. Wir beschrieben ihnen die Vorzüge der unterschiedlichen Stadtteile von Karlovasi und was es dort alles zu entdecken gab und natürlich den Weg zum Potami-Strand und zu den Wasserfällen - genug Stoff für eine halbe Woche. Als wir uns schließlich zum Einkaufen verabschiedeten, lugten die ersten Sonnenstrahlen aus den Wolken und die beiden schlenderten sichtlich aufgeräumter in Richtung ihres Hotels. Fremd ist der Fremde nur in der Fremde. (Karl Valentin)