Paleo karlovasi

In unserem Häuschen hat sich einiges getan.

Jannis, unser Nachbar, hatte einen kalten und harten Winter vorhergesagt. Seine Prognose traf nur so einigermaßen zu. Der Winter war vor allem feucht, lang und klamm. Es gab deutlich mehr Niederschläge als im extrem trockenen Winter des Vorjahres.

Der Grundwasserspiegel und die Zisternen sind so einigermaßen aufgefüllt. Es müsste aber unbedingt noch etwas von oben kommen, reklamieren die Bauern. Und an dem Wochenende um den 20. April kam dann auch noch etwas. Gewaltige Tiefausläufer zogen von Westen über die Ägäis und ein dichter und ergiebiger Landregen ergoss sich stundenlang über der Insel. Vielleicht reicht das Wasser nun für eine Weile.

Nach Jahren der automobilen Anreise sind wir dieses Frühjahr geflogen. Nach Athen. Tags darauf schipperten wir mit der Blue Star Delos von Piräus in unseren Heimathafen Karlovasi. Fliegen geht schnell, etwas zu schnell und ist schrecklich unbequem. Danach ist man wie erschlagen und hat kaum etwas getan, geschweige denn erlebt. Selbst die ewig lange Busfahrt mit der Linie X96 nach Piräus ist dagegen ein kleines Abenteuer. Überhaupt Piräus. Der Expressbus spuckt uns an der Metrostation aus, mitten hinein in eine tumultartige Geschäftigkeit. Mit unserem sperrigen Gepäck sind wir irgendwie immer im Weg. Selbst Bettler und Schnorrer machen einen Bogen um uns. Entschlossen und unter Mithilfe von Google Maps schlagen wir uns bis zu unserem gebuchten Hotel durch.

Der Blick von dem Mini-Balkon ist beeindruckend verstörend. Links erhebt sich der neue 88 Meter hohe Piraeus-Tower, gegenüber starren blinde Fenster von grauen, halbzerstörten Gebäuden, in deren Untergeschossen die Geschäfte des Fischmarktes und mehrerer gut besuchte Tavernen ihre Dienste anbieten. Zwischen den Häuserschluchten im Hintergrund schimmert ein schmales Stück Ägäis, das nur manchmal durch einen vorbei schippernden Schiffsleib unterbrochen wird. Piräus.

Unter unserem Balkon wird gerade an der Gestaltung der Tiefgarageneinfahrt zum Piraeus-Tower gewerkelt. Ein Trupp Arbeiter mit roten Helmen und neongelben Westen bewegt mit einem kleinen Bagger Erde und Steine. Um eine jüngere Architektin mit rotem Helm haben sich mehrere Herren in grauen Anzügen gruppiert - alle ebenfalls rotbehelmt. Die junge Frau zeigt auf ihrem Tablet Gestaltungsvorschläge der Anlage, die angeregt diskutiert werden. Änderungswünsche der Hochbeetbepflanzung spielt sie anscheinend mittels einer KI ein. Die Bauherren sind sichtlich beeindruckt.

Nicht einmal fünf Meter von der Gruppe entfernt, hat sich seit geraumer Zeit eine andere junge Frau an einem grünen Müllcontainer zu schaffen gemacht. Sie trägt eine rote Baseballmütze und einen grauen Trainingsanzug. Nur ihre blauen Plastikhandschuhe passen nicht zum angesagten Farbcode. Geduldig und wohlüberlegt entnimmt sie dem Containerdunkel schmuddelige Plastiktüten, untersucht sie minuziös und stapelt sie neben dem Müllbehältnis. Brauchbare Sachen verschwinden nach eingehender Prüfung in dem bereitstehenden Einkaufstrolley. Nach einer Weile scheint sie mit der Ausbeute zufrieden zu sein, und das ausgebreitete Tütenchaos verschwindet wieder in dem Container. Sie zieht sich die Plastikhandschuhe aus, entsorgt diese ebenfalls im Müll, und zieht mit ihrem Trolley davon. Piräus.

Zeit für einen Kaffee, einen doppelten griechischen Mokka mit wenig Zucker. Zahlreiche Kafenien warten rund um den verkehrsberuhigten Platz der Metrostation. Kaum ist der Elliniko serviert, kommt freudestrahlend ein Mann um die Vierzig auf mich zu und klopft mir herzlich auf die Schulter. „Na - geht’s wieder auf die Insel? Ich war gerade da und habe meine alte Mutter besucht.“ Das Gesicht und die Stimme kommen mir irgendwoher bekannt vor, und während er munter fröhlich weiterredet, versuche ich mich verzweifelt zu erinnern. Woher kenne ich den Kerl? War ich doch zu lange weg? Durch vorsichtige Zwischenfragen versuche ich seinen Redefluss zu unterbrechen und etwas Licht in mein Erinnerungsdunkel zu bringen. Aber seine Antworten lassen mich im Ungewissen. Er schaut auf seine Uhr und deutet Aufbruch an. Ach - da wäre noch eine Kleinigkeit. Gerade sei er am Bankautomaten gewesen, und der hätte seine Karte nicht akzeptiert. Ob ich wohl ein paar Euro für einen Kaffee hätte? Jetzt fällt der Groschen, so laut, dass man ihn vermutlich sogar noch auf Samos hören könnte. Piräus.

Ein paar Stunden später auf der Fähre werde ich wieder unvermittelt und herzlich angesprochen. Aber nach einer Schrecksekunde erkenne ich Aleka und Jannis - gute Bekannte aus Aflakia, die wir seit Jahrzehnten kennen. Und es gibt gleich viel zu erzählen, wir haben uns lange nicht gesehen. Die Blue Star Delos schwebt durch den Saronischen Golf in einen lauen Frühlingsabend. Wir sind auf dem Weg nach Hause und haben Piräus bereits weit hinter uns gelassen.

Spät in der Nacht, nach zehnstündiger Fahrt, steuern wir endlich den Hafen von Karlovasi an. Wir sind gespannt. Gespannt auf unser Häuschen in Paleo. Nicht wie es den Winter überstanden hat. Das hat es gut. Das wissen wir von unserer lieben Nachbarin, die es von November bis März betreut hat und mit der wir ständig in Kontakt waren. Wir sind gespannt auf unseren neuen Fußboden. Letztes Jahr hatten wir erhebliche Probleme mit dem alten Dielenboden im oberen Wohnbereich. Massive Luftfeuchtigkeit im Winter hatte dem alten Holz zugesetzt. Die Dielen wurden morsch, und das ein oder andere Mal sind wir beim Rübergehen eingebrochen. Die kaputten Bretter wurden herausgerissen und durch neue ersetzt. Das Problem war kurzfristig behoben, die Feuchtigkeit aber nicht verschwunden. Eher durch Zufall entdeckten wir die Ursache. Durch ein Leck an der Zuleitung der im Pflaster der Gasse verbauten Wasseruhr drang immer noch Feuchtigkeit ins Mauerwerk und nun auch in die ausgebesserten Holzdielen. Die defekte Wasseruhr wäre eigentlich eine Angelegenheit der Gemeinde Karlovasi. Aber das könnte dauern. Wir beauftragten unseren Installateur und Nachbarn Gregori. Der flickte das Leck in ein paar Stunden. Aber die Feuchtigkeit war tief ins Mauerwerk eingedrungen. Wir bekämpften sie mit einem Luftentfeuchter und holten damit über 50 Liter Wasser heraus. Half alles nicht viel. Etliche Fußbodendielen mussten wieder raus und durch neue und trockene ersetzt werden. Nut auf Feder. Mittlerweile hatten wir den Dreh raus und bewerkstelligten das selbst. Wir lebten auf einem hölzernen Stückwerk, das immer wieder repariert und lackiert werden musste. Nicht schön und auch nicht sehr vertrauenswürdig. 

So konnte das nicht bleiben. Wir holten uns Rat bei Agyris, dem Tischler unseres Vertrauens. Er durchzog mit Zollstock und bedächtigen Schritten den oberen Wohnbereich, schaute sich lange die Unterkonstruktion im Keller an. Kam wieder hoch, schaute lange zur Decke, setzte sich, rührte nachdenklich in seinem Kaffee und legte die Stirn unter dem schwarzgrauen Lockenkopf in Falten. Nach seiner Meinung gäbe es nur eine sinnvolle und auch praktikable Lösung. Er schaute nach oben. Bei unserer Raumhöhe von über drei Metern würde er auf den alten Dielenboden und auf eine Ausgleichs- und Stabilitätskonstruktion aus Kanthölzern einen komplett neuen Dielenboden verlegen. Das käme auch mit der Türschwelle beim Eingang und mit dem Treppenabgang hin. Natürlich müssten alle Zimmertüren eingekürzt werden. Alles machbar. Er schaute uns eindringlich an und wiegte seinen Lockenkopf. „Aber ihr müsstet die komplette Etage frei räumen.“ Na - wenn’s weiter nichts ist.

Beim zweiten Treffen mit Agyris hatten wir uns über die Kosten, den Holztyp und die Lackierung geeinigt. Unsere Wahl fiel nicht auf einen Klarlack, sondern eine blau-graue Versiegelung auf Wasserbasis. Agyris war das egal.

Ende Oktober 2023 war es dann so weit. Kurz vor unserer Rückreise schlugen wir die Betten ab und begannen mit dem Umzug aller Möbel in die untere Etage und ins Badezimmer. Alle fest verbauten Elemente wurden in und unter Folie verpackt. Nur ein Tisch und zwei Klappstühle ließen wir, wie vereinbart, oben. So zogen wir nach Deutschland.

Noch vor Weihnachten erreichte uns die Nachricht der Nachbarin, dass eine erste Ladung mit Holzdielen angeliefert worden sei. Ab Mitte Januar wurde dann gehämmert, gesägt und abgeschliffen. Im Februar schickte Agyris erste Handyfotos von dem teilweise verlegten Boden via Viber. Ein paar Wochen vor unserer Abreise kam dann das erste, von Agyris kommentierte Video vom verlegten und frisch lackierten Boden. Das Filmchen war etwas unscharf und phasenweise verwackelt. Man konnte einen gut verlegten Boden mit teilweise sehr unruhiger und schlieriger Oberfläche erkennen. Hatten wir uns da im Lack vergriffen? Unsere liebe Nachbarin beruhigte uns - es sähe toll aus.

Nun würden wir das Ergebnis in ein paar Minuten mit eigenen Augen sehen. Wir waren gespannt. Und als wir mitten in der Nacht die orangefarbene Eingangstür aufschlossen und das Licht anknipsten, machte sich bei uns Irritation und Unsicherheit breit. Hatten wir uns doch für den falschen Lack entschieden? Hatten wir nun das nächste Problem? Der Fußboden an sich machte jedenfalls einen stabilen und trittsicheren Eindruck.

Bei Tageslicht entspannte sich die Lage. Und nachdem wir den Staub abgesaugt hatten und die erste unserer antiken Kommoden stand, drehte sich unsere Stimmung. Der Boden hatte eine Anmutung von verwittert blau-grauem Treibholz, das von der Sonne verblichen war. Der leichte Glanz veredelte und vereinheitlichte diesen Eindruck. Unsere liebe Nachbarin hatte Recht: der Boden sieht toll aus.

Auch Agyris war mit seinem Werk zufrieden. Er besucht regelmäßig seine Mutter in Paleo, und bei dieser Gelegenheit kam er auf einen Sprung vorbei. Nun bekannte er sein anfängliches Befremden mit unserer Farbwahl. Bislang verarbeitete er nur die klassischen Holztöne. Er nickte anerkennend mit seinem Lockenkopf und sagte „τέλεια“ - auf den Punkt.

 

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